Berlin (kobinet) "Außer Spesen nichts gewesen?" Dieser Frage ging kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul am 26. Juni anlässich der Marke von 200 Tagen rot-grün-gelber Regierungskoalition in seinem Kommentar für die kobinet-nachrichten zur Behindertenpolitik nach. Bei verschiedenen Akteur*innen nachgefragt, kam nun auch ein Statement von den beiden Berichterstatterinnen zur Behindertenpolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Stephanie Aeffner und Corinna Rüffer, zu deren Einschätzung der ersten 200 Tage. Für die Grünen-Politikerinnen ist klar, dass die existenziellen Krisen nicht gegen andere genauso dringende Aufgaben wie menschenrechtsorientierte Teilhabepolitik ausgespielt werden darf.
„Unsere Ampelregierung ist nun seit etwas mehr als 200 Tagen im Amt. 200 Tage, die so ganz anders verlaufen sind, als wir uns das alle vorgestellt hatten. Als Teil der Regierung ist es uns gelungen, so viele behindertenpolitische Themenfelder im Koalitionsvertrag zu verankern wie noch nie. Bereits das ist ein echter Meilenstein, denn in den letzten 16 Jahren sind viele drängende Probleme unbearbeitet geblieben. Dadurch sind die Baustellen immer größer geworden, so dass wir nun den Mut finden müssen, gerade jetzt einige grundlegende Veränderungen anzugehen. Denn durch die vielen überlagernden Krisen droht das so wichtige Ziel einer inklusiven Gesellschaft und der gleichberechtigten und selbstbestimmten Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen auf der Strecke zu bleiben“, heißt es im Statement von Stephanie Aeffner und Corinna Rüffer.
Und weiter berichten die Behindertenpolitikerinnen der Grünen: „Der brutale Angriffskrieg auf die Ukraine stellt uns alle vor neue Herausforderungen, die zu Beginn des Jahres noch undenkbar waren. So verschärft die neue Sicherheitskrise die von der Vorgängerregierung geerbten Probleme nochmals deutlich. Ob Energieversorgung, Inflation, Klimaschutz oder Digitalisierung: So viele wichtige Themen wurden verschlafen und führen nun zu einem enormen Druck im Bundeshaushalt. Gleichzeitig haben wir durch die anhaltende Pandemie, Klimafolgen und den Ukrainekrieg drei riesige Krisen zu bewältigen. All das lässt sich ohne entsprechende Haushaltsmittel nicht bewältigen. Dass nun in dem 100 Milliarden Euro schweren ‚Sondervermögen Bundeswehr‘ kein ‚erweiterter Sicherheitsbegriff‘ enthalten ist, führt zu weiterer Konkurrenz im klammen Bundeshaushalt. Die Frage nach der Schuldenbremse im nächsten Jahr wird damit noch dringender. Denn eines ist klar: Die existenziellen Krisen dürfen nicht gegen andere genauso dringende Aufgaben wie menschenrechtsorientierte Teilhabepolitik ausgespielt werden. Wir müssen alle Probleme gemeinsam lösen, sonst schaden wir dem sozialen Zusammenhalt und damit der Demokratie!“
Gleichzeitig zeichne sich mit Blick auf die immer weiter steigende Inflation und den absehbar immensen Anstieg der Energiepreise schon jetzt ein eiskalter Herbst ab, der wie so oft die Ärmsten in diesem Land am härtesten treffen werde. „Auch Menschen mit Behinderung zählen nach wie vor viel zu häufig zu den einkommensschwachen und von Armut bedrohten Personenkreisen. Hier ist es unsere Aufgabe, schnell für zielgerichtete Entlastungen zu sorgen. Ob mit Einmalzahlungen, vergünstigter Mobilität oder einem Inflationsausgleich im SGB II und XII, wir arbeiten mit Hochdruck an strukturellen Lösungen, damit die Armen nicht noch ärmer werden“, betonen Stephanie Aeffner und Corinna Rüffer in ihrem Statement für die kobinet-nachrichten.
„Ein riesiger Erfolg ist es, dass Schutzsuchende aus der Ukraine nun regulären Zugang zum Arbeitsmarkt, zur Gesundheitsversorgung und zu Sozialleistungen haben. Das hätten wir uns bereits Jahre vorher in anderen Krisen gewünscht. Nun heißt es, dies auch bei anderen Fluchtgründen und Herkunftsländern, zum Beispiel Syrien, zu ermöglichen. Denn hier herrscht weiterhin eine Ungleichbehandlung. Mit dem Übergang ins SGB II haben geflüchtete Menschen mit Behinderung aus der Ukraine regulären Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe. Um gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen, setzen wir uns dafür ein, dass das zukünftig für alle hier lebenden Menschen gilt und dafür § 100 SGB IX (‚Eingliederungshilfe für Ausländer‘) zumindest nachgebessert wird. Bei den Leistungen der Eingliederungshilfe gibt es aber in der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) grundsätzlich noch riesige Aufgaben: Wir brauchen endlich personenzentrierte Leistungen und müssen die strukturelle Bevorzugung von Sonderwelten beenden. Das gilt gleichermaßen für die bereits hier lebenden Menschen mit Behinderungen wie für die jetzt zu uns kommenden aus der Ukraine“, erklärten Stephanie Aeffner und Corinna Rüffer.
Eine herbe Enttäuschung sie bislang der Gesetzgebungsprozess zur Triage. Trotz der existenziellen Tragweite der Thematik, die grundlegende Werte unserer Verfassung und unseres Zusammenlebens berühre, seien Menschen mit Behinderung kaum einbezogen worden, so Stephanie Aeffner und Corinna Rüffer und weiter: „Statt einer einmaligen Anhörung brauchen wir hier eine intensive Beteiligung der Selbstvertretungsorganisationen. Dem Inhalt der bisherigen Referentenentwürfe ist die exkludierende Verfahrensweise anzusehen, der kursierende Ex-Post-Triage-Entwurf ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Hier müssen wir verstärkt darauf hinarbeiten, das Thema nicht rein medizinisch, sondern in seiner menschen- und verfassungsrechtlichen Dimension zu begreifen.“
„Jetzt ist es unsere Aufgabe, den im Koalitionsvertrag vereinbarten behindertenpolitischen Vorhaben Taten folgen zu lassen. Insbesondere mit Blick auf das Thema Barrierefreiheit sind die dort festgehaltenen Vereinbarungen eine gute Arbeitsgrundlage. Mit der Überarbeitung von Behindertengleichstellungsgesetz, Barrierefreiheitsstärkungsgesetz und Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz haben wir konkret benannt, wie wir der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention endlich näher kommen. Dazu wird auch die Verpflichtung privater Anbieter von Gütern und Dienstleistungen gehören, die ein starker Erfolg im Koalitionsvertrag und ein großer Fortschritt für unsere Gesellschaft sind. Jetzt kämpfen wir für entsprechende finanzielle Mittel, um Unterstützungsangebote für die Umsetzung zu schaffen“, so die Perspektive von Stephanie Aeffner und Corinna Rüffer auf die weiteren Aktivitäten der Ampelkoalition.
Gleiches gelte für den Bereich des inklusiven Arbeitsmarktes: „Wir haben jetzt zu liefern! Einzelne Punkte sind im Koalitionsvertrag bereits konkret benannt. In Anbetracht von Herausforderungen wie dem Fachkräftemangel und den Entwicklungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist genau jetzt der richtige Zeitpunkt, zielgerichtete Maßnahmen zu ergreifen und die Potenziale von Menschen mit Behinderungen endlich anzuerkennen. Hier können wir uns an positiven Modellen aus der freien Wirtschaft orientieren, die den Paradigmenwechsel hin zu einer inklusiven Arbeitswelt längst vollziehen. Helfen können wir dabei, indem wir bürokratische Hürden abbauen und Fördermöglichkeiten verbessern. Ob also Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen, ein inklusives Gesundheitswesen für alle, das Menschen mit Behinderung nicht diskriminiert oder die Bekämpfung von Armut: Die Herausforderungen sind nach wie vor gewaltig. Doch die Zeit, die wir uns als Parlament dafür nehmen, das Geld, das wir dafür ausgeben und die Kämpfe, die wir dafür führen sind die besten Helfer gegen die vielen Krisen! Andernfalls riskieren wir nicht nur eine weitere Spaltung unserer Gesellschaft, auf dem Spiel steht viel mehr: Unsere gesamte Demokratie“, betonen Stephanie Aeffner und Corinna Rüffer von der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Statement für die kobinet-nachrichten zu 200 Tage rot-grün-gelb.
Link zum Statement von Jens Beeck vom 29. Juni 2022 zu 200 Tage rot-grün-gelb
Link zum Statement von Hubert Hüppe vom 6. Juli 2022 zu 200 Tage rot-grün-gelb
Link zum Statement von Sören Pellmann vom 7. Juli 2022 zu 200 Tage rot-grün-gelb
Link zum Statement von Wilfried Oellers vom 8. Juli 2023 zu 200 Tage rot-grün-gelb