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Vier von fünf Online-Shops in Deutschland sind nicht barrierefrei

Bonn: Während behinderte Menschen und ihre Verbände immer noch auf den Referentenentwurf für die Reform des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) für mehr Barrierefreiheit warten, zeigt ein Testbericht, wie schwierig sich die Situation im Bereich der digitalen Barrierefreiheit darstellt. Nur ein Fünftel der meistbesuchten Webshops in Deutschland ist in Teilen barrierefrei. Das ist das Ergebnis des zweiten Testberichts, den die Aktion Mensch und Google mit Unterstützung von BITV-Consult, Pia UDG und der Stiftung Pfennigparade am 2. Juli 2024 in Berlin vorgestellt haben.

Die Tests wurden von geschulten Tester*innen mit unterschiedlicher Beeinträchtigung durchgeführt und durch die Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik (BFIT-Bund) fachlich begleitet. Laut Bericht sind nur 15 von 71 getesteten Webseiten über die Tastatur und somit ohne Maus bedienbar. Dabei stellt die Tastaturbedienbarkeit für viele Menschen mit Behinderung eine Grundvoraussetzung für barrierefreie Nutzung dar.

Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen erklärte dazu: „Digitale Teilhabe zählt zu den zentralen Rechten von Menschen mit Behinderungen, die sich aus der UN-Behindertenrechtskonvention ergeben. Und die hat Deutschland bereits 2009 ratifiziert – das ist nun bereits 15 Jahre her. Barrierefreiheit muss endlich umgesetzt werden – jetzt und überall! Mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz ist nun ein wichtiger Meilenstein erreicht. So müssen ab Juni 2025 viele digitale Dienstleistungen barrierefrei gestaltet sein. Dazu zählen auch Online-Shops. Die Ergebnisse der Studie der Aktion Mensch zeigen jedoch, dass bis zum nächsten Jahr noch viel zu tun ist.“

Häufige Hürden: Fehlende Kontraste, unlogischer Seitenaufbau und störende Banner
Wie der Testbericht zeigt, bieten die meisten der getesteten Webseiten keinen sichtbaren Tastaturfokus. Dies erschwert es Nutzer*innen mit eingeschränktem Sehvermögen zu erkennen, welches Element sie gerade ausgewählt haben. Des Weiteren fehlen oft Kontraste, was die Lesbarkeit von Texten oder das Identifizieren wichtiger Symbole beeinträchtigt. Auch eine falsche oder unlogische Tab-Reihenfolge macht es für Nutzer*innen mit Behinderung oft unmöglich, durch die Online-Shops zu navigieren, sich über Produkte zu informieren und diese auszuwählen. Eine weitere Hürde stellen eingeblendete Inhalte wie Banner oder Cookie-Overlays dar, die den Hauptinhalt der Webseite verdecken und sich nicht ohne Weiteres schließen lassen.

Keine Verbesserung im Vergleich zum Vorjahr
Im Juni 2023 führten die Partner diesen Test erstmals durch. Auch damals erfüllte nur ein Viertel der getesteten Shopping-Portale das Basiskriterium der Tastaturbedienbarkeit. Für 7,8 Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland bedeutet das, dass sie noch immer auf massive Hürden beim Online-Shopping stoßen.

Christina Marx, Sprecherin der Aktion Mensch betonte dazu: „Es ist an der Zeit, digitale Barrieren abzubauen – zumal es in einem Jahr keine Ausreden mehr gibt. Doch viele Unternehmen nehmen in Kauf, dass sie potenzielle Kund*innen ausschließen, wenn sie ihre Webseiten nicht barrierefrei gestalten. Es liegt also auch in ihrem eigenen Interesse, dies zu ändern. Denn von einem einfachen und komfortablen Zugang zu Webseiten profitieren alle.”

Online-Handel muss in einem Jahr barrierefrei sein
Am 28. Juni 2025 tritt die EU-Richtlinie zur digitalen Barrierefreiheit (European Accessibility Act – EAA) in Kraft. Diese verpflichtet die Mitgliedsstaaten, den Online-Handel barrierefrei zu gestalten. In Deutschland wird die Richtlinie durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) umgesetzt, welches private Unternehmen dazu verpflichtet, ihre Produkte und Dienstleistungen auf digitale Barrierefreiheit zu prüfen und an die gesetzlichen Vorgaben anzupassen. Dies gilt für Produkthersteller jeglicher Unternehmensgröße. Ausnahmen gelten nur für kleine Dienstleister mit weniger als zehn Beschäftigten und einem Umsatz unter zwei Millionen Euro. Bei Nichterfüllung drohen Geldstrafen von bis zu 100.000 Euro.

Isabelle Joswig, Inklusionsbeauftragte von Google sagte dazu: „Unabhängig von gesetzlichen Auflagen sollten die Unternehmen einen Beitrag leisten zur Verwirklichung von digitaler und gesellschaftlicher Teilhabe. Und keine Sorge: Barrierefreiheit herzustellen, ist gar nicht so kompliziert. Hauptsache, man legt einfach mal los.”

Positive Beispiele, künstliche Intelligenz und eine Videokampagne
Neben der Analyse vorhandener Barrieren zeigt der Testbericht anhand von Beispielen Lösungswege für inklusive Angebote auf. In diesem Zusammenhang hebt Michael Wahl, Leiter der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik, die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz im Bereich Inklusion hervor: „Ich glaube, dass wir immer mehr erkennen werden, was für ein großes Potenzial Künstliche Intelligenz insbesondere im Bereich Barrierefreiheit im Netz hat: Arbeitsschritte erleichtern, Menschen in Kontakt bringen, auf einmal können Menschen Dinge machen, die sie ohne KI nicht gekonnt hätten, mangels Barrierefreiheit. Ich hoffe, dass Barrierefreiheit im Netz in Zukunft als Mehrwert und Wettbewerbsvorteil für Unternehmen gesehen wird.“

Zusätzlich werden die Aktion Mensch, Google und die Stiftung Pfennigparade in einer Serie von Online-Videos Handlungsempfehlungen für Webseiten-Betreibende auf ihren Social-Media-Kanälen veröffentlichen. An der Videokampagne „Barrierefrei im Netz – mach mit“ beteiligen sich außerdem prominente Influencer*innen wie Mr. BlindLife, Mohammed Kaan, Fabiana Kühl, Damian Breu und René Schar.

Die Partner des Projekts wollen den Test auch im kommenden Jahr wiederholen. Der vollständige Bericht kann unter www.aktion-mensch.de/test-barrierefreie-webshops heruntergeladen werden.