Berlin: Während die Verhandlungen in den Arbeitsgruppen für den Koalitionsvertrag in die zweite Woche gehen, erwarten behinderte Menschen ein Ergebnis, das dem bisher in Deutschland schwach ausgeprägten Barrierefreiheitsrecht endlich entsprechenden Rückenwind verschafft. "Wir sind es leid, ständig mit alten und neuen Barrieren konfrontiert zu werden, ohne dass es eine nennenswerte Aussicht gibt, dass auch private Unternehmen zur Barrierefreiheit verpflichtet werden", erklärte der Sprecher der LIGA Selbstvertretung Ottmar Miles-Paul.
"Wir wollen, dass das tägliche Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen selbstverständlich wird und werden daher die Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderungen weiter ausbauen - auf dem Arbeitsmarkt und durch die Förderung von Barrierefreiheit im Alltag, beim Wohnen und im digitalen Raum." Diese Formulierung haben die Spitzen von SPD, Grünen und FDP im 12seitigen Ergebnispapier der Sondierungsgespräche gewählt, das am 15. Oktober der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Für die LIGA Selbstvertretung ist es zwar ein gutes Signal, dass das Thema Barrierefreiheit überhaupt im Sondierungsergebnis festgehalten ist, allerdings gehe es längst nicht mehr nur um die Förderung von Barrierefreiheit, sondern um die Verankerung eines Rechtsanspruchs auf Barrierefreiheit, der konsequent umgesetzt werden müsse.
Zur Barrierefreiheit schlägt die LIGA Selbstvertretung daher vor, in einer 100-Tage-Agenda der neuen Regeierungskoalition folgende Formulierung in den Koalitionsvertrag aufzunehmen: "Wir wissen, dass fehlende Barrierefreiheit für teils gravierende Teilhabeeinschränkungen behinderter Menschen verantwortlich ist. Deshalb werden wir bereits in den ersten 100 Tagen unserer Regierungszeit die Weichen dafür stellen, alle Anbieter*innen von Waren und Dienstleistungen zur Barrierefreiheit zu verpflichten. Dabei gilt die Maxime, dass Barrierefreiheit für alles Neue verpflichtend vorgeschrieben wird. Für den Altbestand werden Umbaupläne mit Zeitkorridoren und hinterlegten Finanzbudgets erstellt. Wir werden auch mit dem Novellierungsprozess des erst kürzlich verabschiedeten, aber in seiner jetzigen Formulierung völlig unzureichenden Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) beginnen. Uns ist bewusst, dass hinsichtlich der Digitalisierung in Deutschland ein großer Nachholbedarf besteht, den wir entschieden, zeitnah und nachhaltig angehen wollen. Dabei werden wir von Beginn an auf barrierefreie Digitalisierung setzen, um eine gleichberechtigte Teilhabe aller Bürger*innen zu ermöglichen und teure Nachrüstungen zu vermeiden. Dazu gehört auch die Einführung eines 'Digitalgeldes' für einkommensschwache Bürger*innen sowie maßgeschneiderte Maßnahmen für ältere und alte Menschen, um wirklich allen Bürger*innen die Teilhabe an der digitalen Welt zu ermöglichen. Auch hier gilt: Alles Neue muss barrierefrei sein, für den Altbestand werden Zeitpläne zur Umrüstung erarbeitet."
In Sachen Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) macht die LIGA Selbstvertretung folgenden Formulierungsvorschlag für die 100-Tage-Agenda für den Koalitionsvertrag: "Uns ist bewusst, dass das im Personenbeförderungsgesetz normierte Ziel eines barrierefreien ÖPNV zum 1. Januar 2022 nicht erreicht wird. Deshalb werden wir drei Sofortmaßnahmen einleiten: Ab sofort werden Selbstvertreter*innen bei der Gestaltung und Beschaffung von Fahrzeugen beteiligt; wir werden die Weichen stellen, dass spätestens zum 1.1.2022 Assistenzen bei Ein- und Ausstiegen zu allen Zeiten ermöglicht werden, zu denen öffentliche Verkehrsmittel unterwegs sind; wir werden dafür sorgen, dass spätestens zum 1.1.2022 bei allen Informationsangeboten zu und in Verkehrsmitteln das Zwei-Sinnes-Prinzip umgesetzt wird. Mittelfristig werden wir die Beteiligung von Selbstvertreter*innen bei der Gestaltung und Beschaffung von Fahrzeugen als auflösende Bedingung gesetzlich verankern. Außerdem werden wir die Verbandsklagemöglichkeiten dahingehend erweitern, dass die bisherigen Feststellungsklagen künftig durch Verpflichtungsklagen ersetzt werden. Ebenfalls mittelfristig werden wir mit Betroffenen sowie Vertreter*innen des Bundes, der Länder und Kommunen konkrete Pläne mit Zeitschienen und Verantwortlichkeiten erarbeiten, so dass das Ziel eines barrierefreien ÖPNV zum Ende der 20. Legislaturperiode zum 1.10.2025 tatsächlich erreicht wird."
Für die langsfristigen Pläne für die Legislaturperiode und darüber hinaus schlägt die LIGA Selbstvertretung folgende Formulierungen vor: "Barrierefreier bezahlbarer Wohnraum: Steigende Mieten betreffen nicht nur Menschen mit Behinderungen. Das Problem des knappen Angebots an bezahlbarem Wohnraum verschärft sich aber für Menschen, die auf Barrierefreiheit angewiesen sind. Um die Versorgungslücke zu schließen, müssen bis 2030 jährlich 179.000 neue barrierefreie Wohnungen entstehen. Diese Erkenntnis aus einer neueren Studie des Bundesinnenministeriums nehmen wir ernst und sind entschlossen, dieser Versorgungslücke in Zusammenarbeit mit den Ländern durch hinreichende Investitionen in barrierefreien sozialen Wohnungsbau entgegenzuwirken."
Zur barrierefreien Mobilität empfiehlt die LIGA Selbstvertretung folgende Formulierung: "Barrierefreie Mobilität: Wir werden in Absprache mit den verschiedenen politischen Ebenen, Selbstvertreter*innen und weiteren Expert*innen dafür sorgen, dass behinderte Menschen gleichberechtigt alle Mobilitätsangebote nutzen können. Dazu gehören unter anderem verbindliche Zeitpläne zur Schaffung barrierefreien öffentlichen Nah- und Fernverkehrs; Programme für barrierefreie Taxis; die Verpflichtung von Airlines zum Einbau barrierefreier Toiletten und zur Bereitstellung eines Bordrollstuhls."
Link zu den Formulierungsvorschlägen für den Koalitionsvertrag der LIGA Selbstvertretung
Was ein gutes Barrierefreiheitsrecht leisten muss, das hat ein Bündnis verschiedener Verbände bereits im Vorfeld der Schaffung des in seiner Wirkung äusserst begrenzten Barrierefreiheitsstärkungsgesetz formuliert.
Link zu den Vorschlägen des Bündnisses für ein gutes Barrierefreiheitsrecht
Wie private Unternehmen konkret zur Barrierefreiheit ihrer Dienstleistungen und Produkte verpflichtet werden können, dazu hat das Forum behinderter Jurist*innen bereits eine Reihe von konkreten Gesetzesvorschlägen entwickelt, die sowohl im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) als auch im Bundesbehindertengleichstellungsgesetz (BGG) geregelt werden könnten.