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Grundgesetzergänzung vor 30 Jahren war sehr bewegender Tag

Berlin: Vor genau 30 Jahren, am 30. Juni 1994, hat der Bundestag im Berliner Reichstagsgebäude das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes beschlossen. Das beinhaltete auch die Änderung von Artikel 3 Absatz 3 mit dem neuen Satz "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Welche Bedeutung dieser Tag für H.-Günter Heiden hat, dazu und zu vielen anderen Themen rund um den damaligen Erfolg der Behindertenbewegung führte kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul mit dem Autor des vor kurzem erschienen Buchs "Behindertenrechte in die Verfassung! Der Kampf um die Grundgesetzergänzung 1990-1994“ ein Interview.

kobinet-nachrichten: Vor genau 30 Jahren, am 30. Juni 1994, hat der Bundestag im Berliner Reichstagsgebäude das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes beschlossen. Das beinhaltete auch die Änderung von Artikel 3 Absatz 3 mit dem neuen Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Welche Bedeutung hat dieser Tag für Sie?

H.-Günter Heiden: Das war ein sehr bewegender Tag für mich und für viele andere, denn zusammen hatten wir nach über vier Jahren Kampf und Mühen doch noch unser Ziel einer Grundgesetzänderung erreicht, die dann am 15. November 1994 in Kraft getreten ist. Wir haben diese historische Bundestagssitzung auch mit einer Feier in der nahegelegenen Kongresshalle, die heute Haus der Kulturen der Welt heißt, begleitet. Dabei haben wir vor lauter Begeisterung aber nicht gemerkt, dass der Bundesrat in der Debatte noch Vorbehalte angemeldet hat. Das betraf zwar nicht den Artikel 3, sondern es ging um Fragen der Hochschulgesetzgebung und der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern. Das konnte aber glücklicherweise im weiteren Verlauf des Sommers 1994 geklärt werden.

kobinet-nachrichten: Sie haben von einer historischen Sitzung gesprochen. Was hat Sie denn am meisten beeindruckt?

H.-Günter Heiden: Das war natürlich zum einen das Endergebnis der Abstimmung, die eine überwältigende Mehrheit erbrachte. Zum anderen war das die Rede von Hans-Jochen Vogel, der an diesem Tag seine letzte Rede im Bundestag für die SPD hielt. Er begrüßte, dass die Regierung aus Union und FDP „in letzter Minute“ ihren Widerstand gegen die Aufnahme eines Diskriminierungsverbotes in die Verfassung aufgegeben habe und sagte dann wörtlich: „Das zeigt, dass beharrliches Engagement – und dabei denke ich vor allem an die Behindertenverbände, deren Anregungen wir aufgegriffen und die uns nachdrücklich unterstützt haben – doch etwas bewirken kann.“

kobinet-nachrichten: Es ist ja bekannt, dass erst die Rede von Bundeskanzler Helmut Kohl, gut sechs Wochen vor dieser Bundestagssitzung auf dem Verbandstag des VdK die überraschende Wende brachte.

H.-Günter Heiden: Auch nachdem ich die Rede bei der Recherche für mein Buch im Original nachgelesen habe, ist mein Eindruck, dass dies ein rein taktischer Umschwung war, um im Superwahljahr 1994 nicht mit leeren Händen in Sachen Behindertenpolitik dazustehen. Wirklich inhaltlich überzeugt schien er mir nicht zu sein.

kobinet-nachrichten: Mit welchen Argumenten wollte die Bundesregierung denn die Grundgesetzänderung verhindern?

H.-Günter Heiden: Nun, die Argumente reichten von „Das steht ja alles schon in Artikel 1 der Verfassung, damit sind die Behinderten auch mitgemeint“ bis hin zu der zynischen Aussage, das Grundgesetz würde zu einem „Warenhauskatalog“ oder „Irrsinnskatalog“ verkommen, wenn man alle Gruppierungen in Artikel 3 aufnehmen würde.

kobinet-nachrichten: In Ihrem Buch zeichnen Sie den langen Kampf der Behindertenbewegung für die Verfassungsänderung nach. Dabei war dies zu Beginn gar nicht das erste Ziel der Bewegung.

H.-Günter Heiden: Genau, gegen Ende der 80er Jahre hat uns die US-Gesetzgebung stark motiviert, auch in Deutschland Gleichstellungsgesetze zu erreichen. Und als dann der „Americans with Disabilities Act“ 1989/90 beschlossen wurde, war dies zusätzliche Motivation. Dann aber kam für alle in Deutschland überraschend der Mauerfall. In der DDR wurde beim Runden Tisch eine Arbeitsgruppe Verfassung eingerichtet, die bereits einen guten Text mit dem Merkmal „Behinderung“ erarbeitete. Und im späteren Einigungsvertrag vom August 1990 wurde beschlossen, dass man sich noch einmal die Verfassung anschauen und überarbeiten müsse. Vor diesem Hintergrund haben wir gesagt, dass es Sinn macht, zweigleisig zu argumentieren: Wir wollten eine Verfassungsergänzung in Artikel 3 und ein umfassendes Gleichstellungsgesetz, das auf dieser Verfassungsergänzung aufbaut. Diese beiden Kernforderungen haben wir im „Düsseldorfer Appell“ zusammengefasst, den wir als „Initiativkreis Gleichstellung Behinderter“ auf der Rehamesse in Düsseldorf im Oktober 1991 veröffentlicht haben.

kobinet-nachrichten: Wer war das denn eigentlich, der Initiativkreis Gleichstellung Behinderter?

H.-Günter Heiden: Wir haben uns als verbandsunabhängiges Personenbündnis nach einer Tagung des Bundesverbandes Selbsthilfe Körperbehinderter (BSK) ab November 1990 zusammengetan. Das Besondere daran war, dass erstmals Personen aus den traditionellen Behindertenverbänden mit denen aus der emanzipatorischen Behindertenbewegung gemeinsam auftraten. Das war zu diesem Zeitpunkt Anfang der 90er Jahre keine Selbstverständlichkeit, deshalb war es ja auch ein reines Personenbündnis. Der Deutsche Behindertenrat etwa hat sich ja erst 1999 gegründet.

kobinet-nachrichten: Und mit welchen Aktionsformen wurde seinerzeit gearbeitet?

H.-Günter Heiden: Das war eigentlich ein bunter Strauß: Angefangen von einem neu gegründeten Infoblatt „Behinderte in Action“ über Diskussionsveranstaltungen und Unterschriftensammlungen bis hin zu den Demonstrationen am 5. Mai, die 1992 zum ersten Mal stattfanden. Wichtig waren auch die juristischen Inputs, die vom „Forum behinderter Juristinnen und Juristen“ kamen. Auch eine Postkartenaktion an die Verfassungskommission haben wir gestartet – E-Mail, Facebook oder Instagram gab es damals ja noch nicht.

kobinet-nachrichten: Stichwort Verfassungskommission: War das mühsam, dort Gehör zu finden?

H.-Günter Heiden: Es hat über ein Jahr gedauert, bis wir im Januar 1993 endlich die Gelegenheit bekamen, angehört zu werden. Wichtig war, dass wir in dieser Anhörung die SPD überzeugen konnten. Die SPD hat dann auch im März 1993 einen Antrag in die Verfassungskommission eingebracht mit dem Wortlaut, der jetzt auch in der Verfassung steht. Leider haben wir bei der Schlussabstimmung der Verfassungskommission nur eine einfache Mehrheit und nicht die notwendige Zweidrittelmehrheit erringen können. Dennoch haben wir weitergemacht und das Superwahljahr 1994 genutzt – letzten Endes doch noch erfolgreich.

kobinet-nachrichten: Aber das war dann ja „nur“ das eine Ziel der Bewegung, also die Verfassungsergänzung, die erreicht wurde.

H.-Günter Heiden: Richtig! Das zweite Ziel, ein umfassendes Gleichstellungsgesetz wurde ansatzweise erst 2002 mit dem Behindertengleichstellungsgesetz geschaffen. Aber immer noch fehlt, dass private Anbieter*innen von Waren und Dienstleistungen ausdrücklich per Gesetz zur Barrierefreiheit verpflichtet werden. Dabei ist die Vorgabe von Artikel 3 doch eigentlich eindeutig und mittlerweile gibt es auch die UN-Behindertenrechtskonvention. In diesem Sinne werden wir weiterkämpfen und die derzeitige selbsternannte „Fortschrittskoalition“ daran erinnern, ihre Zusagen aus dem Koalitionsvertrag in Sachen Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft endlich einzulösen!

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview. Diejenigen, die das genauer nachlesen wollen, denen sei das vor kurzem erschienene Buch von H.-Günter Heiden mit dem Titel „Behindertenrechte in die Verfassung! Der Kampf um die Grundgesetzergänzung 1990-1994“ empfohlen.

Infos zum Buch:

H.- Günter Heiden: „Behindertenrechte in die Verfassung! Der Kampf um die Grundgesetzergänzung 1990-1994“. Beltz Juventa 2024, 222 Seiten. Print: 38,- Euro, ePub und PDF 34,99 Euro. Seit 19. Juni 2024 auch im Buchhandel erhältlich

Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter:

https://www.beltz.de/fachmedien/sozialpaedagogik_soziale_arbeit/produkte/details/52995-behindertenrechte-in-die-verfassung.html

Kontakt zum Autor für Lesungen/Veranstaltungen:

H.- Günter Heiden – E-Mail: [email protected] – Tel.: 030-436 44 41

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