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Heute vor 27 Jahren: Beschluss für Grundgesetzergänzung

Berlin: Heute vor 27 Jahren haben sich hunderte Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen am Reichstag in Berlin versammelt, um den ersten großen Erfolg in Sachen Gleichstellungsgesetzgebung für behinderte Menschen live mitzuverfolgen und zu feiern. Am 30. Juni 1994 tagte der Deutsche Bundestag im Reichstag in Berlin, um das nach der Wiedervereinigung leicht reformierte Grundgesetz zu verabschiedet. Nach langem Kampf der Behindertenbewegung wurde darin auch der Satz "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" in Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes mit aufgenommen. Ottmar Miles-Paul erinnert in seinem Bericht an diesen Tag und dessen Auswirkungen.

Bericht von Ottmar Miles-Paul

Beeinflusst von der Antidiskriminierungsgesetzgebung der USA hatte die deutsche Behindertenbewegung bereits kurz nach der Öffnung der Grenzen zur ehemaligen DDR damit begonnen, ein ähnliches Antidiskriminierungsgesetz für Deutschland einzufordern, durch das beispielsweise eine umfassende Barrierefreiheit festgeschrieben wird. Mit Unterstützung von behinderten und nichtbehinderten Jurist*innen und Akteur*innen aus dem Initiativkreis Gleichstellung Behinderter, aus dem das NETZWERK ARTIKEL 3 hervorging, wurde eine Strategie entwickelt, die sowohl eine Grundgesetzergänzung als auch die Schaffung eines umfassenden Antidiskriminierungsgesetzes für behinderte Menschen vorsah. Daraus entstanden vielfältige Aktivitäten, wie beispielsweise der Europaweite Protesttag für die Gleichstellung behinderter Menschen, der seit dem 5. Mai 1992 bis heute durchgeführt wird. Vielfältige Diskussionen, eine Unterschriftensammlung für den Düsseldorfer Appell und eine Anhörung der Verfassungskommission bildeten weitere Meilensteine auf dem Weg zu gesetzlichen Verbesserungen. Nach einer strikten Ablehnungshaltung der damals regierenden Koalition aus CDU/CSU und FDP folgte im Vorfeld der im Herbst 1994 anstehenden Bundestagswahl plötzlich das Kanzlerwort von Helmut Kohl beim Verbandstag des VdK für eine Verfassungsänderung im Mai 1994 im Sinne behinderter Menschen. Damit kippte der bisherige Widerstand gegen eine Aufnahme des Satzes "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" in Artikel 3 Absastz 3 des Grundgesetzes plötzlich und einer entsprechenden Aufnahme stand nichts mehr im Wege. Die SPD hatte das Vorhaben bereits vor allem durch das große Engagemant von Hans-Jochen Vogel unterstützt.

Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) wollte den Tag der Abstimmung über die Grundgesetzergänzung nach dem langen und aufwändigen Kampf für die Aufnahme des Benachteiligungsverbotes für behinderte Menschen nicht verstreichen lassen, ohne den Abgeordneten des Deutschen Bundestages dabei auf die Finger zu schauen und den Erfolg dann entsprechend mit einer Reihe von Akteur*innen, die dafür gekämpft hatten, zu feiern. In verschiedenen Gruppen à 50 Personen konnten Aktivist*innen der Behindertenbewegung der Plenardebatte jeweils für eine halbe Stunde im Reichstag folgen, was ein enormer logistischer Aufwand für die Organisation war. Zudem stellte die Bundestagsverwaltung im Reichstag einen Raum zur Verfügung, wo die Debatte und vor allem die Abstimmung per Fernsehübertrag verfolgt werden konnte. Eine Pressekonferenz vor dem Reichstag und eine anschließende Feier im nahegelegenen Haus der Kulturen der Welt boten zudem einen guten Rahmen für die Feier für diesen Erfolg. Nach der Zustimmung des Bundesrates und der Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten konnten die Neuregelungen des Grundgesetzes am 15. November 1994 in Kraft treten.

Bei der Feier dieses Erfolges heute vor 27 Jahren war allen Akteur*innen klar, dass dies nur ein Zwischenschritt auf dem langen Weg für Gleichstellungsgesetze war, denn durch die Grundgesetzergänzung änderte sich im Alttag der Betroffenen erst einmal gar nichts. Der Kampf für Gleichstellungsgesetze auf Bundes- und Landesebene schloß sich daher nahtlos an und es sollte bis zum 1. Mai 2002 dauern, bis das Behindertengleichstellungsgsetz auf Bundesebene verabschiedet wurde. 2006 folgte dann das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), 2016 wurde das Behindertengleichstellungsgesetz durch eine Reform weiterentwickelt.

Was die Grundgesetzergänzung mit dem Satz "Niemand darf wegen seiner Behinderungen benachteiligt werden" jedoch bewirkte, ist dass damit eine Grundlage für weitere gesetzliche Regelungen bzw. Gerichtsverfahren gegen Benachteiligungen geschaffen wurde, auf die sich der Gesetzgeber und die Gerichte beziehen können bzw. müssen. So konnte beispielsweise die Aufhebung der Wahlrechtsausschlüsse mit Hilfe der Heranziehung der Grundgesetzergänzung im Beschwerdeverfahren beim Bundesverfassungsgericht und für die danach folgende politische Entscheidung erreicht werden. In einer Reihe von weiteren gerichtlichen Entscheidungen half zudem der Verweis auf Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes. In Verbindung mit der 2009 in Deutschland in Kraft getretenen Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen konnten weitere gesetzliche Veränderungen wie beispielsweise im Bundesteilhabegesetz erreicht werden. Dabei waren dies meist hart erkämpfte Kompromisse und nur selten die von den Betroffenen angestrebten und notwendigen Lösungen für ein selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben. Auch in Sachen Barrierefreiheit bleibt noch viel zu tun, da es mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, das am 20. Mai 2021 vom Deutschen Bundestag verabschiedet wurde, wieder nicht gelungen ist, private Unternehmen zur umfassenden Barrierefreiheit ihrer Dienstleistungen und Produkte zu verpflichten. Auch eine längst überfällige Weiterentwicklung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes mit der Aufnahme einer Verpflichtung für angemessene Vorkehrungen steht noch aus. 27 Jahre nach dem Bundestagsbeschluss für den Satz "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" im Grundgesetz bleibt also noch viel zu tun, um diesem verfassungsmäßig garantierten Anspruch in der Praxis gerecht zu werden.